|
Jeansgold
Dr. Kerstin Eßer, 2012
(Rede zur Vernissage) |
|
„Jeans sind in der Katze. Jeans sind oft blau, wie der Blaue Reiter. Jeans ist auch der Name der Katze.“
So kommentierte Heidi Mühlschlegel das gemeinsam ausgewählte Einladungsmotiv. Sie, liebe Gäste, werden beim ersten Blick auf die Karte wahrscheinlich weder an „Jeans“ noch an „Katze“ oder gar den „blauen Reiter“ gedacht haben. Wir machen Ihnen daraus keinen Vorwurf – wir machen Ihnen ein Angebot: Schauen Sie sich die Werke hier in natura an und lassen Sie die Eindrücke wirken.
Denn diese Kunst lockt zum freien Gedankenspiel. Und sie reizt zum Anfassen. Knautschiges Plastik und plüschige Stoffe treffen auf die Überreste diverser Alltagsgegenstände. Schichtenweise ist alles mit einander verwebt, verklebt oder vernäht und überdies überzogen mit Farbflecken und glitzernden Verzierungen. Manche Stellen sind wieder aufgerissen, teilweise neu geflickt oder geschmückt.
Die Bilder und Figuren beanspruchen Zeit und Muße zur Betrachtung. Gleichzeitig künden sie von langwierigen, sogar zähen Entstehungsprozessen, in denen sich Gestaltung, Zerstörung und Wiederaufbau abgewechselt und gegenseitig befruchtet haben.
Damit möchte ich nun Ihren Blick auf die hier präsentierte „Landung vor: Kein schöner Bayern“ lenken.
Die Installation umfasst eine etwa kindgroße Puppe, die sich einem Bild zuwendet, das auch als Wandteppich bezeichnet werden könnte. Die Luftmatratze als Bildträger erinnert an Sigmar Polke. Wie er wählt auch Heidi Mühlschlegel gern Stoffe aus, die ihre eigene Geschichte und ihre Ästhetik mit in das Kunstwerk einbringen. Politische oder kulturwissenschaftliche Aspekte stehen nicht im Vordergrund. Ihre Position ist konsequent subjektiv, nach innen gerichtet, fragend und Fragen aufwerfend.
Angesichts dieser Figur, die dem Titel nach gerade von irgendwoher gelandet zu sein scheint und die Arme ausgebreitet hält, wie um die Balance zu halten, kommen mir Fragen wie die folgenden in den Sinn:
Kraft welcher Macht bist Du hier gelandet? Wie stehst Du da: Bist Du verwirrt, verletzt, traurig? Oder eher zufrieden, vielleicht neugierig? Wartest Du auf etwas? Was willst Du jetzt tun?
Die Suche nach möglichen Antworten ist die Geburtsstunde ganzer Lebensentwürfe.
Vollgestopft mit allerlei Krimskrams, beherbergt diese Puppe unter anderem Kinderkleidung und Spielzeuge. Die Beine stecken in Kinderskischuhen. Das Kindchenschema wird durch den überdimensional großen Kopf und die geringe Körpergröße bedient, und das funktioniert sogar, obwohl der Kopf aus einer großen Stoffpaprika besteht. Irritierend wirkt aber, dass dieses Haupt eindeutige Zeichen von Zerstörung aufweist, ebenso wie der Kopf einer kleinen Marionette, die ihr anhängt.
So ganz unbeschwert bunt und kindlich-lustig kommt die Puppe also nicht daher. Die vielen verwendeten Perlen, Pailletten und anderen schmückenden Details können nicht über die Versehrtheit hinwegtäuschen. Schnüre und Fäden hängen ihr an: vielleicht sind es zerschnittene Marionettenfäden?
Sie schaut auf das Bild, auf dem ebenfalls deutlich eine menschliche Figur zu erkennen ist. Auch sie ist teilweise deformiert.
In einem Gemenge aus Acryl- und Ölfarbe sind die Worte „Kein schöner Bayern“ und „Liebe“ zu lesen, ferner erscheint ein Kopf mit zwei Gesichtern.
Das Bild bietet dem Auge nur diese wenigen Anker und Ruhezonen. Von dort aus kann der Blick zwar immer neue Erkundungen in die Fläche hinein unternehmen, aber diese enden unweigerlich im Strudel der vielen Farbtöne.
Die Farben sind wie im Fluss, zerlaufen jedoch nicht, sondern sind säuberlich, bis in feinste Muster und Verzierungen verästelt. Dadurch kommt der scheinbare Farbenlauf zum Erliegen. Zeit und Raum sind ohne Bedeutung.
Dadurch, dass sich alles in die Fläche drängt, wird die Dichte dieses Farbgewebes noch gesteigert. Die komprimierte Detailfülle der stehenden Figur quillt sogar an mehreren Stellen über die Konturen hinaus. Mühlschlegel verdichtet die vielen heterogenen Materialien, mit denen sie arbeitet, zu geradezu „barocken“ Kunstwerken.
Das Wort "Barock" stammt übrigens aus dem Portugiesischen und bedeutet "seltsam geformte, schiefrunde Perle".
Unser heutiger Sprachgebrauch kennt eine „barocke Fülle“ als eine durchaus zwiespältige Eigenschaft; und genau das passt sehr gut zu den Botschaften, welche Mühlschlegels Werke aussenden.
Denn die Bezeichnung „Barock“ steht allgemein nicht nur für: ausladend, verschnörkelt, üppig, blumig und verziert, sondern auch für Eigenschaften wie: überladen, erdrückend, geschmacklos und übertrieben.
Mühlschlegel bedient sich offensichtlich ganz bewusst all dieser Beiklänge.
Heidi Mühlschlegel erteilt der modernen Devise „Weniger ist mehr“ eine Absage.
Musikalisch betrachtet, entspricht Mühlschlegels Motto: „Mehr ist mehr!“ dem Multisampling, das Versatzstücke in neue Kontexte setzt. Ähnliche Tendenzen gibt es auch in der Architektur seit 1990. Baukünstler wie z.B. Daniel Libeskind versuchen, durch Übersteigerung und Verfremdung die alltägliche Wahrnehmung aufzustören und zu hinterfragen. Abgeleitet von dem Motto „Form follows function“ der Bauhauskunst lautet ihr Schlachtruf „Form follows fantasy“. Die „schiefrunden und perlenverzierten“ Objekte, die wir hier sehen, lassen sich da gut zuordnen.
Heidi Mühlschlegel wählt mehr oder weniger wertloses Ausgangsmaterial, um Kunst daraus zu machen. Oder sehr frei assoziativ-alchimistisch ausgedrückt: in langwieriger Kleinarbeit verwandelt sie Dreck in Gold.
Ihre bevorzugten künstlerischen Techniken sind die Collage und die Assemblage. Eine Assemblage lässt sich auch als Collage mit räumlicher Ausdehnung umschreiben. Es ist die Kombination heterogener Materialien, Objekte oder Fragmente.
Heidi Mühlschlegel verbindet, bündelt und vernäht unterschiedlichste Textilien, kombiniert sie mit allerlei Fundsachen und Malerei. Dabei stützt sie sich auf künstlerische Vor-Reiter wie z.B. Robert Rauschenberg, der bereits in den 1950er Jahren Assemblage und Malerei zu den sogenannten Combine Paintings verband. Von Künstlern wie Pablo Picasso und Kurt Schwitters stammt die Idee der „objets trouvés“, die in der zeitgenössischen Kunst - etwa auch bei Daniel Spoerri - weiterlebt. Die „objets trouvés“ sind aus dem Konsum-Kreislauf herausgefallen und werden für die Kunst „gefunden“. Sie erzählen von Zeit und Vergänglichkeit, von Leben, Tod und Neuanfang.
Heidi Mühlschlegels Geschöpfe sind zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung folglich bereits historisch. Sie werden dadurch zu personifizierten Überlebenskünstlern und Verwandlungsmagiern.
Das „Stirb und werde!“, das hier aufscheint, gehört zu den zentralen mythologischen Themen der Menschheit. Es sind dies die Erschaffung der Welt und des Lebens, der Prozess der Zerstörung und Erneuerung, häufig in Verbindung mit dem Kampf unterschiedlicher Mächte.
Heidi Mühlschlegels Kunst steht damit auch in der Tradition des aus den 1970er Jahren stammenden Konzepts der „individuellen Mythologie“. Sie gestaltet sich einen persönlichen „Nährboden“, der sie als Kunstschaffende trägt und stärkt.
Der „Blaue Reiter“ bietet ihr eine schier unerschöpfliche Quelle der Inspiration und steht für Aufbruch und Erneuerung. Mühlschlegels Kunst ist spirituell, sie fokussiert die Sinn- und Wertfragen des Daseins und besonders der eigenen Existenz: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?
Die hier ausgestellten Künstlerkostüme und das Zelt sind Wegbegleiter mit Fetisch-Charakter. Es sind schamanische Kraftquellen - eine zweite Haut, ein provisorisches Heim -, die dazu einladen, hineinzuschlüpfen und sich mit magisch-kreativer Energie aufzuladen.
Eine altes Sprichwort sagt, dass Kleider Leute machen. Kleidung oder Verkleidung zu tragen, das zeigt nicht nur den anderen, wer wir sind oder wie wir sein wollen, sondern schafft in uns selbst unmittelbare Befindlichkeiten. Im Maßanzug erleben wir uns anders als in der abgewetzten Lieblingsjeans oder im Faschingskostüm.
Es ist eine abenteuerliche Vorstellung, einmal in fremde Hüllen zu schlüpfen. Wer möchte das nicht ausprobieren?
Damit wünsche ich Ihnen allen noch einen inspirierenden Abend und danke ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Kerstin Eßer in Biberach, 26.7.2012
|
|
|