I Vorlauf
Jedes Kunstwerk ist zunächst ein fremdes Gegenüber, ein Objekt in einem eigenen Bezugssystem. Und so kommt es, dass man als Betrachter durchaus Respekt hat, weil man die ernsthafte Haltung spürt, die hinter ihm steht; der Zugang jedoch fehlt, als wäre ein Vorhang vorgezogen, durch den man vorerst nur grobe Umrisse erkennen kann. So ging es mir mit den Arbeiten von Heidi Mühlschlegel, obwohl ich Heidi von den Veranstaltungen der Ponybar und der gemeinsamen Arbeit im lothringer13_laden seit längerem kannte. Sicher war ich mir darin, dass in ihrer Arbeit nichts leichtfertig geschah.
Auf dem Weg an die Atlantikküste vor zwei Jahren gab es einen Zwischenstopp in Paris. Ich hatte mir die Halle Sainte Pierre für einen Ausflug ausgesucht um dort die Ausstellung „Art Brut Japonaise“ zu sehen. Die Art Brut war mir kein neues künstlerisches Phänomen, Positionen dieser Richtung waren im Studium immer wieder aufgetaucht: Adolf Wölfli etwa, der selbsternannte Schweizer Weltenschöpfer, der jede Leerstelle seiner hermetischen Zeichnungen, wie um den Horror Vacui zu bannen, mit Symbolen, Schrift und Notenzeilen überzog; oder Jean Dubuffet, der, zunächst vom Surrealismus beeinflusst, schließlich an der akademischen Kunst zweifelnd zum große Promoter einer antiintellektuellen Kunst wurde; und natürlich die berühmte Heidelberger Sammlung des Arztes und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn. Auch die Arbeiten der Ausstellung der Halle Sainte Pierre, die jede für sich genommen ihre scheinbar nerd-artigen Auswüchse hatte, waren daher nicht grundsätzlich überraschend, plötzlich jedoch war mir klar: die Art Brut, die Outsider Art, war der missing link, der mir einen Zugang zu Heidi Mühlschlegels Arbeiten ermöglichte. „Außenseiterkunst“, eine Art unverbildete, rohe, unmittelbare Kunst, das war es, was ihrer künstlerischen Haltung entsprach, das war das ästhetische Bezugsfeld, in dem sich ihre Arbeiten in einem spannungsvollen Verhältnis in Beziehung setzen und zugleich lesen ließen.
Nun ist Heidi Mühlschlegel keine Außenseiterin sondern Insiderin, sie ist keine Autodidaktin, sondern hat eine akademische Ausbildung, sie kennt den Betrieb und seine Attitüden. Und gerade deshalb scheint ihr die vermeintlich „kunstlose“ Kunst nahe. Jede große Geste, jede cool ironische Distanzierung wäre ihr zuwider. In der Sprache des vermeintlich kunstlos Banalen, im Stil schlichter Handarbeiten und provisorischer Installationen, die sich jeder High-End-Ästhetik verweigern, haben ihre Arbeiten eine Wirkung, die tiefer zielt. Als Künstlerin macht sich Mühlschlegel immer wieder angreifbar, weil nur so an die eigentlichen Dinge heranzukommen ist, alles andere wäre lächerlicher Dekor. Stattdessen wird man unweigerlich in den von ihr geschaffenen Situationen in den Bann eines Unangenehmen, Verdrängten, einer Sehnsucht nach Schutz, Sensibilität und Achtsamkeit gezogen. Und wenn das eigene Scheitern offen vorgestellt wird, geschieht das in für sich strahlender, künstlerischer Untergründigkeit. Dieses Motiv des Untergründigen ist der zweite zentrale Aspekt.
Das untergründige Andere, das an die Oberfläche drängt, sich im Objekt sichtbar manifestiert, Raum einnimmt, ist ein Grundprinzip von Mühlschlegels Arbeitsweise. In einer Ausstellung mit Arbeiten von Franz West hatte ich dieses Prinzip der bildhauerischen Psychoballung, die einen Ort plötzlich wie ein fremdartiges Wesen besetzt, zum ersten Mal verstanden. Das Negative, das Diffuse und Angespannte erhält eine Form. Daniela Stöppel hat in ihrem Text für Heidi Mühlschlegels ersten Katalog „Fohlen“ bereits das spannungsvolle Verhältnis zwischen Innen und Außen im Werk beschrieben, auch das Stellvertretermotiv der Puppe bzw. des Fetischs. Dies insgesamt ist wohl der Vorlauf, um Mühlschlegels Arbeiten zu sehen.
II Zur Installation Tarzan von Heidi Mühlschlegel
In seiner Einleitung zur Ausstellung „Art Brut“ 1959 in der Galerie Alphonse Chave schreibt Jean Dubuffet: >> Die Partei der l’art brut ist jene, die sich der des Wissens gegenüberstellt, dem was der Okzident (ein wenig geräuschvoll) seine „Kultur“ nennt.<< Die Opposition von Ratio und Wissen und andererseits dem Irrationalen und Unbewussten ist so leicht jedoch gar nicht zu halten. So hat etwa auch Foucault in seiner „Ordnung der Dinge“ und der „Archäologie des Wissens“ deutlich exerziert, dass es sich dabei vor allem um eine „Archäologie des kulturellen Unbewussten“ (Bublitz) handelt. Kultur und Unkultur lassen sich gegeneinander vertauschen, und schon zeigen sich die faulen Stellen der vermeintlichen Kultur.
Dieses Bild der Umkehrformel gilt auch für die jüngste Installation von Heidi Mühlschlegel, die sie zur Ausstellung in der Galerie der Künstler inszeniert. Die beiden Motive „Adler“ und „Badengehen“ tauchen dabei immer wieder gemeinsam auf. Bewusst bezieht sich Mühlschlegel auf den Kontext „Die ersten Jahre der Professionalität“ und thematisiert in ihrer Installation die Rolle und Situation des Künstlers.
Da die künstlerischen Arbeiten von Heidi Mühlschlegel selbst keinem konzeptionellen Plan folgen, sondern sich aus sich heraus entwickeln und sich im Prozess der Entstehung ein eigenes Bezugsfeld knüpfen, gibt es meist einen Kern, ein erstes Motiv oder Objekt aus dem heraus sich alles Folgende entspinnt. Hier ist es ein Wandteller aus Holz, auf dem der geschnitzte Schriftzug "Des Bauern Hand schafft Brot dem Land" und ein sähender, von Ähren umringter Arbeiter abgebildet sind. Unweigerlich erinnert das Pathos solch rustikaler Dekorstücke, die für die gut bürgerliche Stube gedacht waren, auch an die ästhetischen Vereinnahmungen brauner Vergangenheit. In den 1930er Jahren etwa hatte das Reichspropagandaministerium seine sogenannten Reichserntedankfeste jeweils als profane Großveranstaltung organisiert, bei denen auf Grundlage der eigene Blut- und Boden-Ideologie die Bedeutung des Bauern für das Reich gefeiert werden sollte. Die Basis dieser Symbolik aber geht auf die traditionellen kirchlichen Erntedankfeste zurück. Mühlschlegel bezieht sich auf eben das dahinterliegende Motiv dessen, der in mühevoller Arbeit säht. Der Teller, auch das ist Teil der künstlerischen Arbeitsweise von Mühlschlegel, wird in der Installation nicht mehr direkt sichtbar sein, sondern ist eingenäht in einen Adler. Als seltsamer Urgrund, der sich, auch wenn er unsichtbar ist nicht auflöst, drängt er an anderer Stelle wieder zu, wie Heidi Mühlschlegel es nennt, „ähnlichen Aussagen“. Andere in die Inszenierung eingearbeitete und aus alltäglichen Zusammenhängen übernommene Objekte nehmen dessen Material und Themen direkt oder indirekt wieder auf, so zum Beispiel aus Bast geflochtene Tischsets, ein Sahnespender, der in einen zweiten Adler eingenäht ist, ein geflochtener Korb, Schafwolljacken, Schafwolle, Goldstoffe, Handtücher, die weggeworfene Leinwand einer befreundeten Künstlerin, ein Keilrahmen mit einer Samtpatchwork, die das Motiv des sähenden Arbeiters wiederholt ...
Zurück zu den Motiven von „Adler“ und „Baden“ und deren eigenwilliger Verknüpfung in der Installation. Unweigerlich erinnert der Adler, der mehrmals erscheint, auch an das bundesdeutsche Wappentier, und an verschiedenen Stellen tauchen die Deutschlandfarben Schwarz, Rot, Gold in bunter Mischung auf, zugleich aber auch immer wieder Badeszenen in Form von Fotodrucken etwa auf dem selben Banner. Mühlschlegel setzt für sich die beiden Motive in deren ursprünglicher Bedeutung als Symbole für Kraft (Adler) und Erfolg (Baden). In Umkehrung dazu steht jedoch die tatsächliche Situation von Künstlern im Allgemeinen, die sie mit ihrer Arbeit thematisiert. Und so versteht sie ihre Inszenierung als eine „Preiskrönung für eine Verliererposition“, denn die Anerkennung für das eigene Schaffen und dessen künstlerische Leistung – nicht zuletzt die finanzielle Honorierung – ist gering und findet selten und zumeist nur innerhalb eines kleinen Kreises Involvierter statt. Die Künstlerin steht damit auf dem Podest nicht als strahlendes Vorbild sondern als leuchtende Verliererin. Sie hat ihren Siegerkranz als Außenseiterin verdient. Wenn auch die Schlagwörter der „Kreativen Klasse“ und der „Creative Industries“ mittlerweile zu gesamtgesellschaftlichen Modeworten erhoben wurden, dann werden Künstler nicht dazu gezählt, denn eigentlich baden wir in unserer „Kultur“ längst am liebsten in der seichten Brühe des Marketings, des Kommerz’ und des größtmöglichen Unterhaltungswertes.
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